Der getupfte Spitz / 2. Auflage

  • Der getupfte Spitz

    Hallo zusammen,
    eine schöne Spitzgeschichte von der Autorin Hanne Turowski (Georg Bitter Verlag) fand ich unter http://www.tiereinnot-geretsried.de/spitz.htm:



    "Der getupfte Spitz"



    Michelangelo Buonarroti, der geniale Bildhauer aus Florenz, hatte von Papst Julius II. den Auftrag erhalten, die Decke seiner Hauskapelle mit Fresken zu schmücken. Darüber war Michelangelo keineswegs erfreut. Er hatte zwar in Florenz auch malen gelernt, aber die Freskotechnik, bei der er auf den frisch aufgetragenen Kalk der Wand malen musste, war ihm fremd. Trotz aller Einwände bestand der Papst auf seinem Wunsch; Michelangelo musste sich fügen. Aus Florenz wurden ein paar erfahrene Freskomaler geholt, die Michelangelo bei seiner schwierigen Aufgabe zur Seite stehen sollten.
    Bramante, der Baumeister des Petersdoms, ließ ein Gerüst in der Kapelle aufstellen. Doch Michelangelo war weder mit dem Gerüst zufrieden noch mit den Malern. Das Gerüst ließ er abbrechen und durch eine Konstruktion nach seinen Wünschen ersetzen. Die Malereien, mit denen seine Helfer begonnen hatten, genügten seinen Ansprüchen nicht. So ließ er alle schon fertigen Fresken der zwölf Apostel von der Decke herunterschlagen. Den Malern verbot er, fortan die Kapelle zu betreten.
    Nun machte sich Michelangelo daran, einen zweiten Entwurf zu fertigen. Darin waren nicht mehr die zwölf Apostel als Zierde des Gewölbes vorgesehen. Der Künstler überraschte den Papst mit einem gigantischen Plan. Er wollte in der Sixtinischen Kapelle die Schriften des Alten Testaments lebendig werden lassen. Nicht weniger als dreihundert biblische Gestalten sollten die Kapellendecke bevölkern.
    Man kann sich vorstellen, dass es Papst Julius zunächst einmal die Sprache verschlug. Doch als er sie wiedergefunden hatte, stimmte er dem großartigen Plan ohne weiteres Zögern zu. Michelangelo machte sich allein an die gewaltige Aufgabe. Nur ein paar Farbenreiber gingen ihm zur Hand. Vier Jahre lag er auf dem Rücken und malte. Er gönnte sich keine Pausen bei der Arbeit. Sogar das Essen vergaß er. Zu den Strapazen der körperlichen Schwerarbeit gesellten sich immer wieder die Qualen des Selbstzweifels und der Mutlosigkeit. Manchmal kam der Papst, stieg auf das Gerüst und sah dem Künstler bei der Arbeit zu. Er war ein ungeduldiger Charakter. Immer wieder drängte er Michelangelo und stellte ihm Fragen zu seiner Arbeit, die den ohnehin gereizten Künstler zur Weißglut brachten. Dann stritten sich Papst und Künstler so, dass ihre nicht sehr frommen Reden von den Wänden der Kapelle widerhallten.
    In diesen schweren Jahren hatte Michelangelo einen einzigen Freund, der ihn auf Schritt und Tritt begleitete: einen kleinen Spitz. Man erzählt sich, dass der Hund geduldig auf einem seidenen Kissen in der Kapelle lag, wenn sein Herr malte. Aber selbst der artigste Hund kann nicht sein ganzes Leben auf einem Kissen verbringen, selbst dann nicht, wenn es aus Seide ist. Eines Tages hielt es der Spitz vor Langeweile nicht mehr aus. Er verließ sein Kissen und stahl sich durch die Tür davon, die ein Farbenreiber versehentlich offengelassen hatte.
    Der Zufall wollte es, dass der Hund einem Koch aus der päpstlichen Küche begegnete. Der stolzierte mit einer Platte über den Hof, auf der frisch gebratene Täubchen angerichtet waren. Da er seine Augen mehr auf die Platte als auf den Weg richtete, war es kein Wunder, dass er stolperte. Die Täubchen purzelten auf die Erde. Da konnte der Spitz nicht widerstehen. Er schnappte sich einen der gebratenen Vögel und machte sich eilig aus dem Staub. In einer stillen Ecke wollte er das Täubchen in aller Ruhe verspeisen. Doch er hörte den schimpfenden Koch, der ihn verfolgte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als mit seiner Beute Reißaus zu nehmen. Glücklicherweise stand die Tür zur Kapelle immer noch offen. Der Spitz flitzte unter dem Gerüst durch und turnte über einen Balken.
    Plötzlich stand er seinem Herrn gegenüber, der ein überaus strenges Gesicht machte. Vor Schrecken ließ der Spitz das Täubchen fallen. Es landete in einem Farbeimer. Aber damit nicht genug. Draußen näherten sich schnelle Schritte. Michelangelo ahnte den Zusammenhang. Rasch nahm er den dicksten Pinsel, der herumlag, tauchte ihn in die Farbe und malte dem Spitz eilig ein paar rotbraune Tupfen auf das weiße Fell. Inzwischen war der Koch in die Kapelle nachgekommen.
    Michelangelo stellte sich ihm in den Weg und herrschte ihn an, was er hier zu suchen habe. “Nichts weiter als einen Spitz mit einem Täubchen in der Schnauze, das für den Tisch Seiner Heiligkeit bestimmt war”, brachte der Koch außer Atem vor. “Wie hat der Hund denn ausgesehen? Weiß oder schwarz?”, fragte Michelangelo. “Weiß wie Schnee”, antwortete der Koch. “Ich besitze zwar einen Spitz”, räumte Michelangelo ein. “Aber - wie du dich selbst überzeugen kannst - hat der weder ein Täubchen in der Schnauze noch ist er weiß wie Schnee.” Damit trat der Meister zur Seite. Der Koch starrte auf den kleinen Spitz mit den rotbraunen Tupfen und schüttelte den Kopf. “Nein, dieser Hund ist es bestimmt nicht gewesen”, sagte er und eilte weiter, um nach dem wahren Übeltäter zu suchen.
    Der Farbenreiber, der die Tür offengelassen hatte, kam zurück. Er schaute auf den getupften Spitz und dann auf seinen Meister. Und dann prusteten beide los und konnten sich eine Weile gar nicht fassen vor Heiterkeit. Noch immer lachend stieg Michelangelo wieder auf das Gerüst, um an den Deckenfresken weiterzumalen.


    Ich weiß nicht, ob es stimmt. Aber der Meister, so erzählen sich die Hunde in Rom, soll sein ganzes Leben nie mehr so herzlich gelacht haben wie über diesen gelungenen Streich.